ZWISCHENREICH
von Prof. Dr. Ina Jessen
Die Ausstellung ZWISCHENREICH zeigt Werke der in Hamburg lebenden Künstlerinnen Miwa Ogasawara und Annette Streyl an der Verbindungslinie von Malerei und Skulptur. Die Künstlerinnen widmen sich auf individuelle Weise Raum-, Material- und Zeitgefügen, in denen sich besondere, subtile und feine Dialoge zwischen den künstlerischen Positionen entstehen.
In Wechselspielen von Luft, Licht und atmosphärischen Phänomenen eröffnet Miwa Ogasawara das Schauspiel existenzieller Facetten des Lebens, die sich in momenthaften wie stimmungsvollen Wahrnehmungen von Himmels- und anderen Räumen offenbaren. Unter der Oberfläche der malerischen Darstellungen bringt sie die tiefen Reflexionen alltäglicher Momente zum Ausdruck, deren fast beiläufiges Einfangen sich in kraftvollen, leuchtenden Bildwelten einschreibt. In ihren Arbeiten verwendet Miwa Ogasawara die traditionelle japanischer Technik der Malerei auf Blattgold und -silber, die neben der besonderen Leuchtkraft des Malmaterials auch eine signifikante Tiefe in der Wirkung erzeugen. Auf diese Weise unterliegt ihren Malereien eine feine, plastische Beigabe von feiner Kostbarkeit in Material und Wirkung. In den Farbkompositonen reflektiert die Malerin die Tiefe einer momenthaften Wahrnehmung und der Kontemplation, die sich in der atmosphärischen Weite ihrer Motive wiederspiegelt. Es sind alltägliche Situationen, deren Details eine kosmische Universalität in sich bergen und in denen Ogasawara den Prozess der Zwischenwelt von nicht formulierbarem Seelenleben, von schwindenden Erinnerungen und existenziellen Energien zum Ausdruck bringt.
Kunsthistorische Bezugnahmen bindet Annette Streyl ebenso in der Materialität ihrer Skulpturen wie auch den figurativen Gestaltungen ihrer Arbeiten ein. Ihren handschmeichlerischen Formen wohnen historisch anmutenden Porträtierte in unerwartet historischem wie aktuellem Gewand inne. Streyls Arbeiten wecken Assoziationen und zitieren künstlerische Vorbilder vergangener Epochen, konkret der mitteleuropäischen Renaissance. Sie erscheinen als Bezugnahmen auf tradierte Darstellungen gekannter Stifterfiguren in sakralen Räumen, wo Streyl sie teilweise ausstellt. Ausstaffiert mit Haube, Hut oder bekrönt halten die feinen Antlitze anmutig und mit geschlossenen oder geöffneten Augen inne. Der bearbeitete Stein steht dabei im Wechselspiel mit der Malerei Hans Holbein d.J. und dem daraus entlehnten Figurenrepertoire. Als umwickelte, mit bildhauerischen Mitteln zu kokonartigen Formen gearbeitete Körper geben sie interpretative Spielräume frei. So „spekulieren [die Arbeiten] auf ein assoziatives, interpretierendes Sehen“, wie Arie Hartog schreibt.
Im Changieren von Figürlichkeit und ornamentalen, vielfach organischen Formen tritt der Bezug in die Gegenwart zutage und birgt somit eine zeitgenössische Distanz gegenüber der Kunstgeschichte des niederländischen 16. Jahrhunderts. Im selben Zuge wird deutlich: Annette Streyl adressiert mit ihren Steinarbeiten unsere Sehtraditionen. Das vermeintliche pars pro toto verweist in der Anmutung von facettenreich bearbeiteten Bruchkanten auf den Prozess – der Werkentstehung in Verbindung mit kunsthistorischen Einflüssen, der aus dem Stein gearbeiteten Figuren und zugleich der Zugewandtheit künftiger Entwicklungen. Der Stein bewirkt durch die taktile Komponente und die Anmutung von Weichheit bei gleichzeitiger Kühle und Härte des Materials, dass wir sie auf multisensuelle Weise wahrnehmen. Ihre Erscheinung ist unmittelbar – bewirkt durch die Körperhaftigkeit ihrer figurativen, dreidimensionalen Präsenz im Raum, das durch die Präsentation im Zusammenspiel ergänzter Aureolen nochmals unterstrichen wird. Das kleine Format mit den definierten Porträts bewirkt dabei, dass wir sie sehr genau beschauen, um zu erkennen, wie wohl sich die historischen Typen in ihrem jeweiligen Gebinde wiederfinden.
Unter Einbindung gezielter Farbsetzungen und Materialergänzungen durch Kleberollen assembliert Streyl ihre Figuren, wodurch sie die historischen Lesarten mit ungeahnten Materialwechseln und Elementen unserer Gegenwart zugleich bereichert und konfrontiert.
Miwa Ogasawara und Annette Streyl verbindet nicht allein, dass sie im Rahmen der Ausstellung ZWISCHENREICH neue Arbeiten zeigen. Eine wesentliche Gemeinsamkeit ihrer Begegnung besteht in der leisen Korrespondenz ihrer Werke mit uns Betrachter:innen und in den Zwischenwelten ihrer Kompositionen zueinander. Im Zusammenspiel der malerischen und bildhauerischen Arbeiten generiert die Ausstellung neue Verbindungen von Sujets, Zeit- und Materialbezügen. Als Betrachter:innen finden wir uns im Moment einer subtilen Unerklärlichkeit wider, zu der uns die die Malerin Miwa Ogasawara und die Bildhauerin Annette Streyl mit ihren Arbeiten einladen.
Juli 2024