Nicola Graef
Vom Versuch zu sehen.
Der Mensch im Bild.
Der besondere Blick
Es ist dieser verhangene Blick, der das Auge des Betrachters bannt. Ein Blick tiefer Schwere, der sich im Nichts zu verlieren scheint. Müde oder auch erschöpft scheint diese Frau. Vom Leben ermattet. Aber wach. All das gesehen zu haben, was Leben heißt, erschöpft nun Mal. Es ist natürlich kein Zufall, dass Miwa Ogasawara der englischen Schriftstellerin Virginia Woolf (1882–1941) einige Porträts widmet. Das Leben dieser großen, traurigen Schreibenden, die am Ende freiwillig aus dem Leben schied, war – wie es all ihre Texte bedeuten – geprägt von Finsternis und Helligkeit, von Verzweiflung und Hoffnung, von der tiefen Liebe zum Menschen und dem Wissen um dessen Einsamkeit. Ihre Schwermut war ihre Anmut. Ihre Figuren Hadernde. Wandelnd zwischen Traum und Realität. Dieser Blick auf die Welt hat vieles gemein mit den Bildern der in Hamburg lebenden, in Japan aufgewachsenen Künstlerin Miwa Ogasawara. Es ist die Suche nach dem zutiefst Menschlichen, was diese Künstlerin antreibt. In dem Wissen, dass die Existenz geprägt ist vom stetigen Modus der Veränderung. Nichts bleibt, wie es ist. Es gibt kein »so bin ich«, nur ein »das bin ich in diesem Moment«, »das könnte ich sein«. Wir sind wandelbar wie die Gezeiten, wie der Himmel, wie das Licht. Motive, die auch eine große Rolle im Werk der Malerin spielen. Ogasawara liest Momente. »Manchmal denke ich, der Himmel besteht aus ununterbrochenem, niemals ermüdendem Lesen«, schreibt Woolf über ihre Beobachtungen. Ein Satz, der auch zu den Bildern passt, um die es hier geht.
Einen Menschen zu lesen, ist so komplex, wie selbst Mensch zu sein. Denn jeder Lesende bringt seine Interpretation mit, geprägt von eigenen Erfahrungen, eigenen Erinnerungen, der Situation, in der er sich gerade befindet. So wird dieses Lesen zu einer Angelegenheit, die kein Anfang und kein Ende kennt. Es bleibt immer etwas Unentschlüsselbares zurück und die Erkenntnis, dass es unmöglich ist, ein Gegenüber in Gänze zu erfassen. Und doch geht es uns oft um genau diese Sehnsucht: gesehen und gelesen zu werden, sich verstanden und aufgehoben fühlen. Es ist ein großes Glück, wenn dies passiert. Miwa Ogasawara löst dieses Dilemma, das Wesen des Menschen erfassen zu wollen und es doch nicht können, auf ihre ganz spezifische Weise. Ihre Malerei bleibt im Vagen, im Ungefähren, in der Andeutung. Es gibt keine Details, keine klaren Konturen. Die Künstlerin maßt sich nicht an, vollständig Sehende zu sein, sie destilliert aus ihren Beobachtungen die Essenz des Menschseins. Darin liegt die Kraft ihrer Werke. Sie haben eine zeitlose Gültigkeit.
Irgendwie. Irgendwo. Irgendwann.
Die Figuren befinden sich in unbestimmbaren Räumen. Sie blicken aus einem Fenster ins Irgendwohin, sie hocken auf dem Boden im Irgendwo. Sie alle eint jedoch eine (Boden-)Haftung, sie sind also keine Verlorene. Die Gesichter haben oft eine eigentümliche Abgewandtheit, zeigen keine erkennbaren Gefühle. Da lacht niemand. Da weint aber auch niemand. Und wenn mehrere Menschen zu sehen sind, dann ist dennoch jeder für sich, ungebunden. Sie sind allein? Fühlen sie sich einsam? Das bleibt offen. In den Bildern offenbart sich auf sanfte Weise eine große Schweigsamkeit, die den Betrachter auf sich selbst zurückwirft. Was erkenne ich, wo spiegle ich mich, wie lebe ich? Miwa Ogasawara ist klug genug, uns keine Lösung anzubieten, keinen exklusiven Hinweis. Diese Figuren sind trotz ihrer abstrakten Nuancen unfassbar nah, unbegreiflich persönlich. Vielleicht liegt es daran, dass die Malerin so liebevoll mit ihren Figuren umgeht, empathisch und beschützend. Da ist kein Pathos, keine große Geste. Es ist der vorsichtige Versuch, sich dem Menschen leise anzunähern in all seinen Schattierungen.
»Die Wahrheit ist immer grau.« (Anselm Kiefer)
So changiert Ogasawaras Malerei nicht zufällig im Farbspektrum der Nichtfarben, weißgrau, hellgrau, mittelgrau, dunkelgrau, schwarzgrau. Es gibt keine Farbe, die uns Bedeutung aufdrängt, keine Farbe, die uns Bedeutung zumutet. Es geht in ihren Bildern um Zurückhaltung. Um Würde. Um Respekt. Damit ist die Malerei dieser Künstlerin zutiefst humanistisch.
Was vielleicht auf den ersten Blick nicht so scheinen mag, so sind diese Bilder damit auch engagierte Gesellschaftsbilder. Sie sind ein Angriff gegen all jene, die glauben, auf alles die richtige Antwort zu haben, die vorgeben zu wissen, wer wir sind, wie wir leben sollen, wie die Welt funktioniert. Diese Bilder sind das Gegenteil. Sie stellen Fragen. Sie öffnen den Blick. So vage ihre Bilder erscheinen mögen, in diesem Punkt ist die Künstlerin kompromisslos präzise. Es geht um Zwischentöne. Der Mensch zwischen Licht und Schatten, zwischen Liebe und Verzweiflung, Nähe und Distanz, Ruhe und Unruhe. Es gibt keinen urteilenden Pinselstrich.
Das junge Leben
Und immer wieder sehen wir Kinder. Jugendliche. Mädchen und Jungen. In Ogasawaras Bildern erscheinen sie nicht kindlich, eher weise. Ihre Gesichter bezeugen eine Wahrnehmung auf die Welt, die uns Erwachsenen weit voraus ist. Sie wirken klar, in dem, was sie sehen. Ihre ungetrübte Intuition, ihr Instinkt scheinen die Wahrnehmung auf die Welt zu lenken, werfen Fragen auf: Seht ihr nicht, was passiert? Könnt ihr nicht aufpassen? Wann seid ihr so geworden, wie ihr heute seid? Könnt ihr nicht wagemutiger, lebendiger, näher am Leben dran sein – wieder mehr ihr selbst sein? Weniger besserwisserisch. Weil ihr denkt, so müsste es sein. Seid wach und aufmerksam, neugierig und entfesselbar. Ihr Blick wirkt wie eine Aufforderung. Wir verheimlichen keine Gefühle, wir sind, wie wir sind! Ahnung zeigt so ein Mädchen. Es steht fest auf dem Boden. Die Körperhaltung abwartend, keineswegs ängstlich. Es schaut uns an und durch uns durch. Es durchschaut uns.
»Damit das Licht so hell scheinen kann, muss es auch Dunkelheit geben.« (Francis Bacon)
Ogasawaras Bilder lassen uns nicht zurück. Diese Bilder suchen den Dialog. Auch hier sind sie zutiefst menschlich. Sie geben uns immer wieder Hoffnung. Da ist Licht, das Spiel im Meer, Tanzende. Hier geht es auch immer um Sehnsucht. Zuneigung und Hinwendung. Ein tiefes Verständnis für den Menschen als einsames, zweisames, verlorenes, zweiflerisches oder nach Gewissheit suchendes Wesen. Es geht immer um Möglichkeiten. Um potenzielle Veränderung, dem Misstrauen gegen Stillstand. Würde man ihre Motive weiterdenken, dann könnte sich im nächsten Moment wieder alles verändern. Das Mädchen, das sitzt, würde aufstehen, die aus dem Fenster blickende junge Frau würde sich wieder dem Raum zuwenden, die Gruppe im Meer würde sich nach dem Bad zum Strand bewegen. Es gibt also immer die Option auf eine neue Perspektive, sie wird geradezu mitgedacht. Licht und Schatten. Kein Moment bleibt, wie er ist. Das ist die große Chance am Mensch sein. Ich kann mich immer neu denken, ich bin beweglich. Ich ist ich ist ich ist ich.
»Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird dazu gemacht.« (Simone de Beauvoir)
Und dann sind da die Frauen, die Bewegung wollten, sie herausforderten. Die wussten, wer sie sein wollten, wie sie die Welt verändern wollten. Es sind die nahezu einzigen Bilder, mit Initialen, mit Hinweisen. Sie bedeuten der Malerin viel. Frauen, die all ihre Energie in ihre Selbstbestimmung und Freiheit legten. V.W. (Virginia Woolf), Rosa (Rosa Luxemburg), Simone (Simone de Beauvoir). Frauen, die kämpften und sich von der Dominanz der Männer nicht irritieren oder einschüchtern ließen. Die ihre Ideen lebten. Die Rollenbilder infrage stellten und selbst zum Rolemodel wurden. »Für mich ist eine Idee nichts Theoretisches, man erlebt sie; wenn sie theoretisch bleibt, taugt sie nichts.« Das sagt die Figur Françoise in Beauvoirs Roman Sie kam und sie blieb. Frauen, wie jede Zeit sie braucht. Frauen, die der Welt einschärfen, dass es auch anders geht, anders gehen muss. Gegen Ignoranz, Banalität, Engstirnigkeit, Narzissmus. »Adam war nichts als ein roher Entwurf« (Simone de Beauvoir). Ein Entwurf ist ein Entwurf. Zu jedem Entwurf gibt es auch einen Gegenentwurf.
»Man muss versuchen, bis zum Äußersten ins Innere zu gehen.« (Samuel Beckett)
Miwa Ogaswaras Bilder fühlt man. Das Sehen wird bei ihr unweigerlich zum Fühlen. Weil so viel Fläche da ist, kann man als Betrachter eintauchen. Sich fallen lassen. Es ist, als ob man in einen Nebel geraten ist. Alles verschwimmt. Dann läuft man vorsichtig weiter, versucht sich zu orientieren, und irgendwann klärt sich das Bild wieder. Das Erkennen kommt erst mit der Zeit, mit der Bereitschaft, sich einzulassen, sich im Bild zu bewegen. Aus diesem Grund sind ihre Bilder so nah an einem dran. Da ist viel Raum für uns. Wir sind Figuren in einem Bild. Wie wohltuend.
© Nicola Graef